Über den Bundesfreiwilligendienst
In der Stiftung Stralsunder Schwesternheimathaus kümmern sich Freiwillige um alte Menschen und die kleinen Dinge ihres Alltags. Dabei bekommen sie spannende Einblicke in den Pflegeberuf und großartigen Geschichtsunterricht.
ECHT 03/2018
Das Heft für den Bundesfreiwilligendienst
von Lars Herde, Fotos: Margit Wild
»Manchmal bin ich über mich selbst erschrocken.« Jenny Reitmann setzt ein verschmitztes Lächeln auf und sieht keineswegs verschreckt aus.
Dann erzählt sie: »Neulich war ich bei der Taufe meiner Urenkelin. Am Ende der Feier sagte ich: »Nun will ich nach Hause!« Und wissen Sie was: Ich meinte nicht das Haus, in dem ich seit Jahrzehnten lebte. Ich meinte diesen Ort hier.«
Dieser Ort – das ist das Evangelische Altenzentrum des Schwesternheimathauses Stralsund. Dessen Wurzeln sind über 100 Jahre alt. Seither kümmern sich die evangelischen Schwestern – Frauen unterschiedlichen Alters und Familienstands, die der Glaube verbindet – um hilfe- und pflegebedürftige Menschen.
Sie sind aber nicht nur Alten- und Krankenpfleger, sondern auch Heilpädagoginnen, Erzieherinnen und Fachfrauen für Verwaltung und Hauswirtschaft. »Unser Motto ist ein Satz aus dem Matthäusevangelium«, sagt Schwester Christine Wawrsich vom Stiftungsvorstand: »Was ihr getan habt einem und einer unter den geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.«
Dieser christliche Anspruch ist im Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern zu spüren.
Eine von ihnen ist die 91-jährige Jenny Reitmann. Die alte Dame ist hellwach und voller Witz (mit großer Geste deutet sie auf ihre etwas plumpen orthopädischen Schuhe:
»Die sind von der Feuerwehr. Mit ihnen kann ich Waldbrände austreten.« Doch nach Stürzen, komplizierten Brüüchen und heiklen Operationen ist ihre Mobilität eingeschränkt. Arthrose und Rheuma machen ihr zu schaffen. Vor dreieinhalb Jahren entschied Jenny Reitmann deshalb, ihr Haus in der Hansestadt Stralsund (Mecklenburg-Vorpommern) aufzugeben und in das Evangelische Altenzentrum der Schwestern zu ziehen. Dass sie es inzwischen fast selbstverständlich als ihr Zuhause empfindet, ist ein dickes Kompliment an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.
Zu ihnen gehören derzeit auch zwei Bundesfreiwillige. Eine von ihnen ist Nicole Vollbrecht. Seit Oktober 2017 kümmert sich die junge Frau mit den raspelkurzen Haaren und den aufregenden Tattoos im Wohnbereich II um die vielen kleinen und größeren Dinge, die eine Pflegeeinrichtung nicht nur zu einem Heim, sondern zur Heimat machen. Dafür muss Nicole früh aus den Federn, der Dienst beginnt morgens um 6.30 Uhr. Dann geht die 33-Jährige den Pflegekräften bei der Morgentoilette zur Hand – freiwillig. »Eigentlich arbeite ich im hauswirtschaftlichen Bereich, habe aber die Möglichkeit, bei der Pflege zu helfen, wenn ich dies möchte.« Sie möchte – und hilft beim Waschen und Anziehen, beim Gang zur Toilette oder zum Rollstuhl. Vor allem verbreitet sie gute Laune, betritt mit Schwung und einem aufmunternden »Guten Morgen, gut geschlafen?« die Zimmer.
Der Start in den Tag ist gerade für alte Menschen nicht leicht, Zuwendung und Ansprache sind deshalb neben der handfesten Hilfe wichtig. Ebenso wichtig: das Frühstück, das gemeinsam gegessen, aber individuell zusammengestellt wird. Kaffee oder Tee, Toast oder Brötchen, Wurst oder Honig – Nicole Vollbrecht kümmert sich ab 8 Uhr darum, dass jeder Bewohner in der großzügigen Wohnküche genau das auf den Teller bekommt, was er mag. Selbst wenn das wie bei Jenny Reitmann so ausgefallene Dinge sind wie ein Toastbrot, das zu exakt gleichen Teilen mit Himbeergelee und Käse bestrichen sein soll. Das Eindecken der Tische, das Abräumen des Geschirrs gehört ebenso zu ihren Aufgaben wie das Nachschenken der Getränke. Manchem Bewohner muss beim Essen geholfen werden. Das machen eigentlich die Pflegekräfte, doch Nicole hilft, wo sie kann. Kein Wunder, dass ihre Kolleginnen voll des Lobes sind: »Nicole sieht die Arbeit, handelt selbstständig und überlegt. Das ist eine große Hilfe für uns. Gerade durch ihre Unterstützung im hauswirtschaftlichen Bereich haben wir Pfleger mehr Zeit für die Bewohner«, sagt Hauswirtschaftsmitarbeiterin Silvia Parotat.
Hauswirtschaft – da kennt Nicole Vollbrecht sich aus. Schließlich absolvierte die Stralsunderin von 2003 bis 2006 eine Berufsausbildung zur Hauswirtschafterin. Während dieser Zeit lernte sie bei einem
Praktikum auch das Evangelische Altenzentrum des Schwesternheimathauses kennen. Sie war angetan von der Atmosphäre des Hauses, dem Engagement der Mitarbeiter und der Herzlichkeit der Bewohner.
Doch nach der Ausbildung arbeitete Nicole jahrelang in einem Hotel – bis ihre Bandscheibe streikte und sie lange krankgeschrieben war. »Der BFD ist für mich ein Weg zurück ins Berufsleben und vorwärts in die Zukunft«, sagt sie. Sicher, der Dienst in der Pflege sei anstrengend – immerhin muss sie als Freiwillige nicht nachts und nur selten am Wochenende arbeiten. Aber die freundlichen Worte und anerkennenden Gesten, die Momente der Nähe und Dankbarkeit entschädigen ebenso wie die Gespräche mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Erst recht, wenn diese wie bei Jenny Reitmann zu spannenden Geschichtsstunden werden.
»Geboren wurde ich 1927, aufgewachsen bin ich in Stettin«, erzählt die alte Dame beim gemeinsamen Spaziergang durch den Garten des Schwesternheimathauses. Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich, als Nicole Jenny Reitmanns Rollstuhl durch die Anlage schiebt. Einen Moment bewundert Reitmann die üppig blühende Kastanie (»diesen Baum liebe ich«), dann ist sie wieder bei ihrer Jugendzeit in Stettin. Mitten im Krieg, mit 14 Jahren, begann sie dort eine Buchhalterlehre. Das Elternhaus brannte ab, die Familie war heimatlos, zog gen Westen und fand in Wismar ein neues Zuhause. 1950 lernte Jenny Reitmann ihren Mann kennen, heiratete, bekam Kinder. Durch einen Zufall – eine sowjetische Lehrerin bat sie um Hilfe – kümmerte sie sich um russische Familien. Schließlich wurde sie Russisch-Dolmetscherin, arbeitete 30 Jahre in diesem Beruf. Bei allem Auf und Ab half Jenny Reitmann ihr christlicher Glauben und eine simple Erkenntnis: »Niemals dem Vergangenen nachtrauern, sondern nach vorne schauen. Das mache ich auch heute, mit 91, noch so.«
Und Nicole Vollbrecht? Auch sie schaut nach vorn. Nach dem Freiwilligendienst möchte sie umsatteln und eine Ausbildung zur Altenpflegerin machen: »Wo sonst kann man Menschen so glücklich machen?«
Dass der BFD dafür ein ideales Sprungbrett ist, beweist Lonni Mae Posselt, die direkt nach der Schule als Freiwillige im Schwesternheimathaus startete und dort im September 2017 ihre Berufsausbildung als
Altenpflegerin begann. Leiterin Schwester Christine Wawrsich: »Der BFD ist für junge Menschen eine gute Möglichkeit, sich zu orientieren. Bei uns bekommen die Freiwilligen nicht nur Einblicke in Hauswirtschaft und Pflege, sondern auch einen Eindruck von Verantwortung, Selbstständigkeit, strukturiertem Arbeiten. Sie begegnen emotionalen Herausforderungen wie Sterben und Tod, bei denen die Balance zwischen persönlicher Empathie und professioneller Distanz wichtig ist. Wir begleiten sie bei diesen Erfahrungen.« Zu dieser Begleitung gehört neben Seminaren und Schulungen auch die Möglichkeit, bei Gebeten und Andachten dabei zu sein und das Gespräch mit den erfahrenen Pflegekräften.
Vincent Lülow spricht gerade mit Pflegerin Jorina Wisse. Es geht nicht um Leben und Tod, sondern um die sogenannte Getränkerunde. Sie verkürzt den Bewohnern die Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen durch Säfte, Wasser und Smoothies, die in den Zimmern gereicht werden. Vincent sortiert routiniert Kannen, Becher und Flaschen auf einem Wagen und macht sich auf den Weg zwischen dem »Dorfplatz« (ein gemütlich eingerichteter Treff für die Bewohner) und den Doppel- und Einzelzimmern. Am Anfang war gerade diese einstündige Getränkerunde für den 18-Jährigen eine Herausforderung: »Mein Gedächtnis ist so schlecht. Dabei ist es wichtig, sich an die Namen und Gewohnheiten der Bewohner zu erinnern und sie darauf anzusprechen.«
Inzwischen hat Vincent aber Namen und Vorlieben parat. Mit Schwung klopft er an der Tür von Frau Träger und Frau Holk, serviert den beiden Damen leckere Obstsäfte, eine Tasse Tee. Zeit für einen
kurzen Schwatz bleibt auch – ja, das Wetter sei heiß, ja, es müsste mal wieder regnen. Banal? Im Gegenteil, solche kleinen Gesten im strukturierten Alltag der Pflegeeinrichtung sind wichtig für Körper, Geist und Seele der Bewohner.
Natürlich gibt es auch weniger spannende Aufgaben. Vincent sortiert ebenso wie Nicole Vollbrecht Geschirr ein, deckt Tische, hilft beim Blumengießen. Mittag und Kaffee müssen vorbereitet und ausgeteilt werden, bevor beide um 15.30 Uhr Feierabend haben. Aber schließlich sind solche unspektakulären Handgriffe nötig und für die Pflegekräfte eine Entlastung. Aber Vincent Lülow, der direkt nach der Schule seinen Dienst im Stralsunder Schwesternheimathaus begann, genießt eher die Momente von Nähe und Zuwendung mit den Bewohnern. »Wenn man einen Apfel schält und dafür ein dankbares Lächeln
bekommt, ist das wunderbar.«
Ob er sich eine Ausbildung in der Pflege vorstellen kann? Vincent Lülow schwankt noch. »Meine Mutter ist Altenpflegerin. Es würde nahe liegen, in den Beruf einzusteigen. Aber Fotografie finde ich auch spannend.« Am Ende des Freiwilligendienstes will er sich über seinen Berufswunsch im Klaren sein.
Und Jenny Reitmann? Auch sie hat einen Wunsch: »Es müsste viel öfter mein Lieblingsessen geben …«
Hier macht die 91-Jährige eine geheimnisvolle Pause, als würde ein raffiniertes Menü folgen. Doch dann platzt sie lachend heraus: »Pellkartoffeln mit Quark!« Das müsste doch zu machen sein.
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